Grusswort März

Liebe Jugend,

wer hat in Zeiten von Netflix, Sky, prime Video oder iTunes noch die Muße, sich mit Lyrik zu beschäftigen? Na klar: Der Lyrik fehlt die Street Credibility. Nur Deutschlehrer, Operngänger, Literaturcafé-Hipster und Die Zeit-Abonnenten (Printausgabe!) sitzen abends in ihren Ohrensesseln und schmökern vor dem prasselnden Kaminfeuer in ihrer Heinrich-Heine-Anthologie. Im Gegensatz hierzu nicht zu vergessen: Von staubtrockenen Gedichtanalysen in Herr Lehrer Lämpels Deutschunterricht gepeinigt, fristen Schülerinnen und Schüler ein bemitleidenswertes Dasein.

Kennt ihr das irgendwoher? Lasst mich diesen Umstand zum Anlass nehmen, das Grußwort für den Monat März mit einem kleinen Gedicht einzuleiten – Ja! Die Lyrik vermag so manchen Gedanken auf eine höhere Ebene zu heben. Auch im religiösen Kontext.

Der Salto

Ein Mensch betrachtete einst näher
die Fabel von dem Pharisäer,
der Gott gedankt voll Heuchelei
dafür, dass er kein Zöllner sei.
Gottlob! rief er in eitlem Sinn,
dass ich kein Pharisäer bin!

Eugen Roth (1895-1976)

„Herr Haß, sagen Sie endlich, was Sie von uns wollen!“ „Was ich will? Ich möchte über das uns wohl bekannte Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner (Lukas 18,V. 9-14) sprechen. Und ich möchte endlich eine Lanze für den viel kritisierten Pharisäer brechen.“ Ein religiöses Thema im Deutschunterricht? Warum nicht!

Aber eins nach dem anderen.

Der Inhalt des Gleichnisses ist kurz und bündig erzählt: Ein Pharisäer und ein Zöllner stehen im Tempel und beten. Der Pharisäer lobt sich selbst über den grünen Klee, zählt seine Tugenden auf und dankt Gott dafür, dass er nicht so ist wie diese ganzen Sünder. Vor allem nicht wie der Zöllner da drüben. Der Zöllner hingegen neigt demütig sein Haupt und erbittet Gnade für seine Vergehen.

Man könnte sagen: so weit so gut! Kennen wir. Das kleine Gedicht von Eugen Roth möge jetzt mal Ausgangspunkt dafür sein, die ganze Sache von der anderen Seite her zu betrachten.1

Nehmen wir erstmal den Zöllner: Im antiken Rom galt das einfache Prinzip der Subsidiarität (Divide et impera – Teile und herrsche). Die Steuern sollten schön die Einheimischen (Zöllner) eintreiben, dann muss man sich die Hände nicht schmutzig machen, und den „Verwaltungskram“ übernimmt ein anderer. Ein Zöllner war für ein bestimmtes Gebiet zuständig. Hat er die erwartete Summe eingetrieben, durfte er für sich noch ein bisschen was draufschlagen – man muss ja auch (gut) leben können. Nur zu Aufständen sollte es nicht kommen. Aber dafür hat die römische Armee gesorgt. Zöllner waren somit in der jüdischen Gesellschaft schwer verhasst – wurden als Überläufer und Vaterlandsverräter verunglimpft. Sie waren es, die „Bruder“ und „Schwester“ noch das letzte Hemd genommen und sich auf Kosten aller bereichert haben.

Die Pharisäer waren hingegen hochgeachtete Persönlichkeiten. Sie waren es, die gerade in politisch unruhigen Zeiten die Fahne des Glaubens hochhielten, die auf Gesetze, Gebote und Traditionen achteten, die den Menschen predigten, Synagogen bauten, den Tempeldienst verrichteten und nach der Zerstörung Jerusalems dafür sorgten, dass die jüdische Kultur nicht vollkommen untergeht. Gäbe es noch heute das Alte Testament (Tora), wenn es diese Kopierer, Interpretierer und stetigen Ermahner nicht gegeben hätte?

Betrachten wir uns einmal selbst. Gehört unsere Lebensbiographie nicht eher zu der eines Pharisäers? Wenn ich mich in der RT-united-Jugend so umsehe, sehe ich viele Jugendliche, die die Fahne des Glaubens hochhalten, das Gebot der Nächstenliebe und alle anderen Gebote umsetzen, die sich korrekt verhalten und im real life vom Werk Gottes Zeugnis geben. Ich sehe junge Menschen, die mitwirken, die die Kirche aufbauen, umbauen, beleben, erweitern und revolutionieren – sei es im Chor, bei Freizeiten, Jugendaktionen, in der Seelsorge oder in der Mithilfe in den Gemeinden. Gäbe es heute das Werk Gottes noch, wenn es euch großen und kleinen „Pharisäer“ nicht gäbe? Sicherlich, eine Zeit lang – aber wie lang? Die Kirche lebt nur, wenn viele Pharisäer sie zum Leben erwecken und am Leben erhalten. Seid weiterhin solche Pharisäer!

Jetzt stellt sich abschließend die Frage, warum dieser gläubige, hochangesehene Mann im Gleichnis Jesu so schlecht wegkommt. Die Antwort liegt auf der Hand: Der Pharisäer aus dem Gleichnis verhält sich wie ein Prolet, der auf andere Menschen hinunterschaut – einer, der stolz auf seine „eigenen“ Leistungen ist und das Wirken Gottes hinter den Dingen nicht erkennt. Der Zöllner hingegen weiß, dass er sich mit seinem Verhalten zum „Aussätzigen“ degradiert. Die Botschaft ist klar: Deine Grundhaltung muss stimmen – sonst hat der Rest keinen Wert.

Der „Mensch“ in Roths Gedicht macht einen „Salto“ und klopft sich für seine Demut selbst auf die Schulter. Im Deutschunterricht könnte man so etwas mit dem Stilmittel „Oxymoron“ umschreiben.

Kehren wir aufrichtig vor der eigenen Haustüre und bleiben wir Pharisäer!

Euer Jonathan

 

1 Vgl. Niklaus Peter u.a. (Hrsg.), Ausgesprochen reformiert – Predigten, Zürich 2014.